Veröffentlicht am 27. April 2024

Interview: Stephan Eicher über Grauzone und «Eisbär»

«Eisbär» von Grauzone ist laut unserer Fachjury der beste Song, der jemals in der Schweiz produziert wurde. Wir sprechen deshalb mit Stephan Eicher über das Lied, das viele junge Bands inspiriert, eine vielleicht irgendwann kommende zweite Grauzone-Platte und seine Tour mit Songs von Mani Matter.

Journalist
402

Hallo Stephan! Unsere Fachjury für das grosse Voting der «100 besten Schweizer Songs aller Zeiten» war sich bei der Nummer 1 erstaunlich einig. «Eisbär» von Grauzone wurde es. Du hast dort Gitarre gespielt und dein Bruder Martin hat «Eisbär» gesungen und massgeblich geschrieben. Der Song wurde 1980 veröffentlicht und wird immer noch, nicht nur von uns, sehr geschätzt. Magst du heute eigentlich noch gerne drüber reden?

Natürlich. Es ist ja auch gut, dass immer ein bisschen klarzustellen. Da sind die Blumen und die Finanzen in der Vergangenheit nicht immer richtig verteilt worden. Deshalb mache ich das gerne. Um zu erzählen, was damals war und wie es heute ist.

Dann nimm uns doch noch mal mit in die Zeit: Wie ist «Eisbär» entstanden?

Also: Da gab es damals eine Band in Bern. Die haben Punk gemacht, und die haben einen neuen Gitarristen gesucht. Das wurde Martin Eicher – mein jüngerer Bruder. Als er eingestiegen ist, hat er viele Cold-Wave-Elemente reingebracht. Also Sachen wie The Cure, oder Fad Gadget, oder The Feelies – die waren eine Lieblingsband von uns. Diese Berner Punkband hat dann gedacht: «Oh, da kommt eine neue Farbe rein! Eine neue Energie!» Also haben sie ihn gefragt, ob er singen wolle, weil die damalige Sängerin immer mal wieder ausgestiegen ist. Martin hat die Band dann in Grauzone umbenannt und mich gefragt, ob ich mal in den Übungsraum kommen könne, um ihre Musik mit meinem Kassettenrekorder aufzunehmen.

Diese Aufnahme hat die Wahrnehmung innerhalb der Band ein wenig geändert. Auf einmal war man sich etwas bewusster, wie es nicht im Moment tönt, sondern beim Rückhören. Danach kamen viele Ideen vom gemeinsamen Experimentieren und ich wurde Teil der Band. Wir haben mit Drumloops gebastelt und da stand ein Synthesizer rum – der gehörte so einer Tanzband. Den haben wir ein wenig schlecht behandelt, aber da kamen spannende Sounds raus. Man konnte mit dem Synthesizer zum Beispiel arktischen Wind kreieren. Aus diesem Zusammenspiel wurde schliesslich diese Grauzone, wie sie bekannt wurde. Das heisst: Mein Bruder Martin, der das meiste gesungen hat. Ich habe drei, vier Lieder gesungen und auch Gitarre gespielt. Reto, also Marco Repetto, war am Schlagzeug, der auch mal gesungen hat und GT – also Christian Trüssel – stand am Bass.

Die 100 besten Schweizer Songs aller Zeiten: Platz 1 – «Eisbär» von Grauzone | ZUM ARTIKEL

Der Song wurde zuerst auf der Compilation «Swiss Wave The Album» veröffentlicht. Wie kam es dazu?

Wir wurden von dem Independent-Label Zandra in ein richtiges Studio eingeladen, um zwei Songs für diese Compilation aufzunehmen. Da hat mein Bruder den «Eisbär» mitgebracht. Das Ding ist dann wirklich durch die Decke gegangen: Zuerst in Österreich und dann in Deutschland. Du musst wissen: Ich war damals 19, mein Bruder 17 und plötzlich riefen uns all die Plattenfirmen an und wollten was von uns. Und wir wollten das alles nicht. Wir haben uns als eher ausserhalb dieser Welt angesehen und hatten keine Tendenzen, zur Neuen Deutschen Welle gezählt zu werden. Das war uns alles ganz schrecklich damals.

Heute mag das wunderbar gewesen sein, aber damals sagten wir: «Um Gottes Willen! Da gehören wir nicht zu!» Wir waren ein bisschen wie Daft Punk später: Es gab keine Bilder von uns, wir haben andere Symbole genommen und sind ganz in den Hintergrund getreten, um die Musik wirken zu lassen. Zumindest eine Weile. Und, na ja, du merkst es ja vielleicht gerade schon ein wenig: Ich kann sprechen und tue es gerne, wenn ich gefragt werde. Die anderen Jungs nicht immer …

Also wurdest du immer ein wenig nach vorne geschoben?

Genau! Es hiess dann immer: «Stephan, geh mal machen, hör doch mal rein, was die Labels sagen, mach einen Vertrag. Kümmere dich um die Cover und Videos.» Du musst wissen: Mein Bruder ist sehr introvertiert und hat sich sehr zurückgezogen. Dadurch, dass ich dann nach aussen im Vordergrund stand, kam bei vielen die Illusion auf, dass ich der Mastermind der Band bin. Das würde ich nicht sagen. Der Mastermind ist Martin Eicher.

  - Grauzone
- Grauzone

Ihr habt ja noch regelmässig Kontakt – auch zum Thema Grauzone?

Natürlich. Ich habe nächste Woche noch ein Meeting mit Martin, wo wir zum siebten Mal an diesem zweiten Album zusammenarbeiten werden. Also ja, das ging weiter. Er ist immer noch Musiker und ich bin immer noch sehr mit ihm verbunden. Ich bring künstlerische Inputs, aber auch dieses Album, wenn es rauskommen wird eines Tages, ist sein Werk. Ich helfe einfach dabei. Ich bin wie eine Hebamme – kann man den so sagen?

Und das wird dann ein Grauzone-Album? Oder eines unter dem Namen Martin Eicher?

Natürlich Grauzone! Um das Publikum noch ein weiteres Mal zu verwirren. Ich will jetzt nicht zu viel verraten, aber es tönt, als wenn Kraftwerk einen Disneyfilm vertonen sollten, in dem Bambi stirbt. So muss man das schreiben.

Ha, sehr gut. Da kann ich als Musikjournalist ja einpacken. Das ist ja schon sehr catchy, das kann man ja kaum besser in eine Rezension schreiben.

Aber schreib bitte unbedingt dazu: Stephan lacht.

Mach ich auf jeden Fall. In eckigen Klammern?

Genau. [Stephan lacht]

«Eisbär» hat über die Jahre ein erstaunliches Eigenleben entwickelt. Ich selbst habe den Song zum Beispiel über eine Avantgarde-Indie-Band aus Belgien entdeckt …

dEUS! Klar.

Genau. Die haben euch immer mal wieder live gecovert und ich war total verwirrt und begeistert, dass die auf einmal auf Deutsch singen. Und dann auch noch so einen tollen Song.

Ich finde diese Schnittpunkte und dieses Eigenleben sehr spannend. Unser Song ist ja jetzt sogar in diesem Spiel, wo man ständig Autos klauen muss.

GTA?

Genau. Da haben wir lange diskutiert, aber ich habe gesagt: «Weisst du, wie toll das wäre: Du klaust das Auto und hörst keinen Hip-Hop, sondern ‘Eisbär’.» Voila! Also haben wir zugesagt. In Frankreich, wo sich meine Solo-Karriere zuerst manifestiert hat, werde ich oft von Musikfans angesprochen, die plötzlich diese Grauzone-Verbindung hergestellt hatten, aber auch rausfanden, dass es andere Pseudonyme oder Bands gab, wo ich mitgemacht habe. Das waren alles Projekte, die ausserhalb von dem sind, mit dem ich in Frankreich in der Schweiz bekannt wurde.

Es gibt gerade viele junge Acts, die sich auf euch berufen. Edwin Rosen zum Beispiel, der in Deutschland sehr erfolgreich ist, nennt Grauzone als grossen Einfluss. Er hat mir in einem Interview erzählt, er habe ein Skateboard mit Zeilen aus «Marmelade und Himbeereis» und er covert es manchmal.

Edwin Rosen sagst du? Den muss ich mir mal anhören. So was gefällt uns natürlich. Vor allem mir, weil ich immer den Wunsch hatte, etwas zu machen, das – wie sagt man? – meine Persönlichkeit übersteigt. Wenn mein Bruder und ich in einem Raum sind, oder auch wir mit Marco Repetto, dann passiert was grösseres als die einzelnen Elemente. Das ist das Grösste für einen Song. Mir ist das mit «Déjeuner en paix» passiert. Der ist bekannter als ich in Frankreich und das liegt daran, dass Philippe Dijan den Text und ich die Musik gemacht habe. Jeder allein hätte das vielleicht nicht so hingebracht. Das, finde ich, ist das Berührende an Musik: Dass da mehrere Architekten und Bauarbeiter daran werkeln. Ich bin sehr glücklich, dass das Lied länger leben wird als ich …

Mit «Eisbär» ist es ja auch so, dass es plötzlich in sehr modernen Produktionen als Zitat oder Referenz auftaucht.

Ja, und das tut gut! Es gibt wirklich Kids oder auch ältere Künstler:innen, die kommen zu mir und sagen, dass sie dank diesem Song mit dem Musikmachen begonnen haben. Weil der nicht mal drei Akkorde hat. Oder es gibt Bands wie LCD Soundsystem, die das geklaut und verschnitten und anders wieder zusammengesetzt haben. Da gibt es ein kleines Game zwischen uns: Ich habe auch einen von ihren Songs genommen und auseinandergeschnitten und wieder so zusammengesetzt, wie der Song war. Hoffentlich landen wir vor Gericht und können darüber lachen, wie grosszügig sich Musiker.innen bedienen.

Aber das ist ja auch gut so. Ich habe eher Probleme mit diesem Marketing-Dings-Bums. Wenn jetzt eine Drohnen- und Waffen-Firma mit unserer Musik werben will, rufen wir natürlich laut: «Nein, bloss nicht!» Aber wenn Bands oder Künstler:innen sagen: Ich nehme diese Klangfarbe und diese Harmonie-Folge und sogar diesen Satz, dieses Wort, dann ist das so. So wird Kultur gemacht, so geht das vorwärts. Das ist meine Meinung.

Wie schaust du auf diese neuen Verbindungen? Kennst du zum Beispiel «3ISBÄR» von Brutalismus 3000, die den Song quasi weiterdenken und in die Zukunft holen?

Ja, die habe ich mitbekommen.

Und? Sind sie dir zu doll?

Nee, auf keinen Fall. Ich bin natürlich kein Tänzer mehr und geh nicht mehr in Clubs oder so. Aber ich habe das «Boiler Room»-Set von Brutalismus 3000 sehr gerne gehört und lege es manchmal auf, wenn ich was Mechanisches machen muss auf. Die Ästhetik und alles sind natürlich so weit wie nur möglich für junge Leute gemacht.

Aber wenn ich meine Aquarelle male oder in Paris sehr speziellen Kaffee trinke, kann ich ja auch weiterhin Chopin hören. Aber diese Schnittpunkte finde ich sehr toll. Und die «Boiler Room»-Sets auch. Das ist für mich immer eine gute Möglichkeit, neue Ideen, Bands oder Sounds zu finden. Das Set von Four Tet ist auch super. Oder Fred Again.., der ja wahnsinnig Karriere macht. Das ist wirklich gut.

Ja, das finde ich auch! Bei dem denke ich immer, er macht Melancholie tanzbar.

Ja, das ist genau das Ziel! So ist es ja auch mit meinem Bruder: Er sucht diese euphorische Melancholie. Darum stehen wir doch am Morgen auf und gehen abends ins Bett.

Ich muss da jetzt nochmal nachhaken: Das mit Grauzone was Neues kommt, habt ihr noch nicht offiziell angekündigt, oder?

Nein. Wir haben jetzt schon 40 Jahre gewartet. Das passiert jetzt auch nicht mehr, dass wird genau sagen, wie viele weitere Jahre noch vergehen werden. Irgendwann wird es so weit sein. Mein Bruder ärgert sich immer, wenn ich davon erzähle, aber er merkt dann auch, dass er dann sofort wieder dahinersitzt und noch eine weitere letzte Streicherpartitur schreibt oder so. Das funktioniert immer. Also musst du unbedingt schreiben: Da kommt was!

Toll, dann können wir noch ein wenig helfen, den internen Druck zu erhöhen.

Gerne. Natürlich werden Grauzone ganz anders klingen als noch vor 40 Jahren. Aber es ist mein Bruder. Er trägt seine Schmerzen offen herum, deshalb hat er sich auch zurückgezogen oder lebt zurückgezogen. Aber er merkt natürlich auch, dass da diese jungen Leute sind, die sich wegen seiner Musik Eisbären auf den Arm tätowieren. Er hat dieses zurückgezogene Leben gewählt, aber ich habe grossen Respekt für ihn.

Lass uns noch einmal kurz über unser Voting sprechen. Was kommt dir in den Sinn, wenn du die besten Songs oder Künstler:innen der Schweiz nennen müsstest?

Aus der Vergangenheit kommend, waren sicher die The Young Gods unheimlich wichtig. Die ersten Sachen von denen haben damals sogar Ministry beeinflusst. Oder Foetus. Zu all diesen krassen Sampling-Bands muss ich einfach sagen: «Sorry Leute, das haben Franz Treichler und seine Young Gods schon früher entworfen.» Ansonsten: Ich bin nicht immer Fan von Yello, aber die waren natürlich immer wichtig, um einen Hummus zu machen, aus dem andere Dinge entstehen konnten. Kleenex waren brillant, die kann man heute immer noch hören. Im Späteren gibt’s natürlich Bands wie Züri West und Patent Ochsner – die haben überlebt wie Bap oder Udo Lindenberg in Deutschland. Das letzte Album von Züri West, «Loch dür Zyt», ist wirklich sehr schön.

Endo Anaconda darf man auch nicht vergessen, von der Berner Band Stiller Has. Dann ist da natürlich Sophie Hunger – die ist einfach ein Ausnahmetalent, das muss man ganz klar sagen. Im HipHop sind die Berner für mich in erster Linie prägend. Aber die wichtigste Stadt, wenn du neue Sachen finden willst: Geh nach Biel! Das ist für mich gerade der place to be: Das ist innerhalb der Schweiz ein rougheres Pflaster, die Quadratmeter-Preise sind billig, es gibt viele Menschen mit Migrationshintergrund.

Dieser ganze Spannungsbogen bringt einfach die tollen Musiker:innen hervor, die was machen, das nicht so kommerziell ist. So bin ich auch auf Roman Nowska, Lionel Friedli und die ganze Jazz-Szene da gekommen. Die ist natürlich Weltklasse. Ich habe nicht das Gefühl, dass in Zürich, Bern oder Basel gross was Neues passiert – wenn ich also aus musikalischer Neugier irgendwo hinziehen würde, wäre das Biel. Für die Inspiration.

Roman Nowska ist ein guter Stichpunkt für meine letzte Frage: Mit Roman Nowska’s Hot 3 bist du gerade auf Tournee (Infos dazu am Ende des Artikels) und hast die Mani-Matter-Hommage «Kunscht isch geng es Risiko» aufgenommen. Wie kam es dazu und wie um Himmels willen, konntet ihr euch darauf einigen, welche Songs aus seinem Oeuvre ihr covert?

Dieses Projekt ist für mich fast ein wenig wie Grauzone. Mein Bruder ist hier Roman Nowka, der diese Idee hatte. Die Texte von Mani Matter kann jedes Kind und jeder Urgrossvater mitsingen. Oder jede Politikerin und jeder Bank-Lobbyist. Alle können diese Lieder. Und Roman hat etwas rausgefunden, dass ich parallel auch entdeckt habe vor einigen Jahren: Dass die Melodien sehr toll sind. Ich hatte 1992 schon ein Matter-Stück für mein Album «Engelberg» aufgenommen, weil ich damals das Gefühl hatte, es sei stark vom Gypsy-Jazz beeinflusst, was Mani Matter da gemacht hat. Er hat diese Musik einfach verlangsamt. Das fiel mir auf, als ich mit Taraf de Haïdouks gespielt habe – eine rumänische Band. Ich habe ihnen mal das Stück vorgespielt und sie sagten: «Schneller! Schneller! Jetzt passt es!»

Ich habe immer gern die Schnittpunkte gesucht, wo sich Kultur befruchtet hat. Man muss wissen, wo man herkommt, um zu wissen, wo man hingehen könnte. Und der Roman hat das so toll gemacht bei Mani Matter, weil er die Texte einfach weggelassen hat. Er hat diese Lieder einfach auf der Bariton-Gitarre durchgesurft. Als ich das zum ersten Mal live gehört habe, war ich ganz hingerissen und das Publikum, das übrigens sehr jung war, sass breit grinsend vor der Bühne. Also haben wir gedacht: Wir suchen weiter, es gibt noch so viele andere Lieder von ihm.

Die Auswahl basierte dann eher auf die Frage: Was macht uns Freude? Wir haben auch noch viel mehr aufgenommen, als auf das Album passte. Ich hatte sogar kurz mal die Idee, das ganze Werk aufzunehmen. Aber das braucht es ja nicht. Das gibt’s ja schon. Und im Kopf passiert das ja eh: Man kann jetzt jedes Stück so anhören, dass man hört, wie gut die Melodie ausgebaut ist. Daran liebt man diesen Mani Matter: Der hat ganz, ganz viel überlegt, dass man nicht mehr überlegen muss.

Roman Nowska’s Hot 3 und Stephan Eicher sind ab 30. April auf Tour mit ihrem Mani-Matter-Programm. Infos und Tickets gibt’s hier.

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