Veröffentlicht am 30. November 2022

Spotify Wrapped: Den Jahresrückblick kann man lieben oder hassen

Alle Jahre wieder... schüttet der Streamingdienst Anfang Dezember seinen Jahresrückblick aus. Spotify Wrapped kann einen nun repräsentieren, das vergangene Jahr musikalisch nachzeichnen, man kann mit seinem Geschmack angeben – oder sich brutalst dafür schämen. Was also soll man von der knallharten Auswertung der eigenen Vorlieben halten? Zwei Meinungen.

Es ist wie mit Koriander, Ballermann und Weihnachts-Hits – all das hasst oder liebt man. All I want for Christmas is Spotify Wrapped? Trommelwirbel: Der Streamingdienst fasst das musikalische Jahr der Spotify-Konsument:innen zusammen und zieht ganz quietschbunt eine Bilanz in Zahlen. Von Nostalgie über Stolz bis hin zu Scham – der Jahresrücklick lockt auch 2022 wieder die komplette Bandbreite an Gefühlsausbrüchen hinterm Playlist-Ofen hervor.
Ihr Starzone-Journalist:innen, sagt mal, was haltet ihr von Spotify Wrapped?

Warum Daniel Spotify Wrapped liebt

Bald ist es wieder so weit: Der grösste Streaming-Anbieter der Welt wird mir private Daten mitteilen und mich anfeuern, diese mit der Welt zu teilen. Nämlich die Antworten auf die Fragen: Welches Genre hast du am meisten gehört? Welche Songs hast du am häufigsten gestreamt? Und wieviel Zeit hast du in den Fängen von Spotify verbracht? Ich weiss schon jetzt, wie das wieder ablaufen wird: Die Connaisseure und Musikjournalist:innen posten ihre geschmackssicheren Listen (sollten sie wie gewünscht ausfallen), die Vattis und Muttis posten Listen, in denen Kinderhörspiele regieren und versehen sie mit ironischen Kommentaren, die Spotify-Hater:innen oder Gelegenheits-User:innen werden eigene, satirische oder quatschige Wrapped-Listen basteln und sich darüber lustig machen, dass mal wieder alle sehr private Dinge über Insta raushauen – und noch immer Spotify nutzen, der nicht gerade am besten bezahlende Streamingdienst aus Sicht der Künstler:innen.

Und trotzdem: Ich liebe diese Auswertung. Obwohl ich sie auch ein wenig unheimlich finde. Dabei muss man wissen: Mein Spotify Wrapped bildet tatsächlich einen grossen Teil meines Musikhörens ab. Ich reise viel, und wenn ich unterwegs bin, oder auf der Arbeit Musik höre, nutze ich meistens Spotify. Auch meine Playlisten für längere Fahrten ziehe ich dort zusammen, weil das da leichter von der Hand geht als bei der Konkurrenz. Spotify Wrapped fängt also tatsächlich ungefähr zwei Drittel meiner Musikhör-Zeit ein. Damit lerne ich am Ende des Jahres tatsächlich etwas aus dieser Liste: Nämlich ob die Wahrnehmung meiner Lieblingslieder auch den nackten Zahlen entspricht. Was nicht immer der Fall ist: Einige Lieder liebe ich dermassen, dass ich sie gar nicht so oft hören kann, weil sie mich irgendwie jedes Mal aufwühlen.

Ausserdem kaufe ich das, was ich liebe, meistens auf Vinyl und – wenn ich mal Zeit am heimischen Plattenspieler habe – höre sie dann irgendwie bedachter und intensiver als auf dem Smartphone oder Laptop. Das spiegelt sich niemals in den Zahlen wieder. Ich lerne ausserdem, welche Songs mich in stressigen Zeiten runterbringen. Im letzten Jahr wunderte ich mich zum Beispiel, warum «Hable Con Ella» von The Marías in den Top 5 auftauchte – ein kleines, 33 Sekunden dauerndes Instrumental. Bis mir dann einfiel: Ich hörte es immer, wenn ich mich innerhalb kurzer Zeit beruhigen musste.

Es war so etwas wie mein Mantra. Und eines sollte ich am Ende vielleicht auch noch zugeben: Ich verstehe den Impuls, seinen Musikgeschmack zu teilen und sich dabei auf die Schulter zu klopfen. Gerade in meinem Beruf. Ich bin nun mal Musikjournalist – und keiner, der für Oldie-Magazine schreibt und sich nicht mehr weiterentwickeln muss. Ich nutze diese Liste ein Stückweit also auch, um mir zu versichern, dass ich meinen Job noch mit Leidenschaft erledigen kann. Um zu überprüfen, dass ich nicht nur die alten Männer meiner Jugend höre, sondern noch die Neugier erkenne, die ich in diesem Job brauche und pflegen will. Im letzten Jahr war mein meistgehörter Song «The Code» vom britischen Schlagzeuger Moses Boyd und der tollen britischen Produzentin, Songwriterin und Sängerin Alewya. Auf Platz 2 war «Introvert» von Little Simz, auf Platz 3 Chvrches mit «Good Girls», auf Platz 4 Schmyt mit «Keiner von den Quarterbacks». Damit war ich mehr als zufrieden. Weil: Allesamt geile Songs, die nicht von gestern sind. Geteilt habe ich meine Liste trotzdem nicht. Aber mir abends vor dem Spiegel einen guten Musikgeschmack attestiert … Mal sehen, wer in diesem Jahr auf der 1 landet. Ich habe «x10» von der jungen Reaggeamusiker Koffee in Verdacht. Oder «Shut Down» von Blackpink. Mit beiden könnte ich gut leben.

Warum Linda Spotify Wrapped unangehm findet

«Musik ist mein Leben» höre ich oft. Da kommt Spotify Wrapped natürlich gelegen. Regelrecht aufgefordert wird man vom Streamingdienst, seinen erlesenen Geschmack zu teilen. Weil: Uuuuhhh, der oder die hört Juwelen, die sonst keiner kennt. Da klingeln die Indie-Ohren, da scheppert der Underground. Und wehe, da schleicht sich der Radio-Mainstream rein. Guter Geschmack ist schliesslich elitär. Und Musik etwas, womit man sich sehr wichtig machen kann. Andere beeindrucken zum Beispiel, umstimmen oder auch abschrecken.

Mein Spotify Wrapped ist auch 2022 ziemlich sicher wieder mal nichts für exquisite Trommelfelle. Ich mag Pop. Und Leute, die gut tanzen. Und aus Überzeugung Gucci tragen. Sowas sollte man der Öffentlichkeit dann besser vorenthalten, fänden wohl die, die sich ständig damit brüsten, dass ihr Leben Musik ist. Das wären dann zudem die, die sich auch im Feld der gehörten Minuten battlen. Auch das schlüsselt die Auswertung auf. Wer leidenschaftlich Musik hört, der hört quasi immer. Ein Glück, lässt sich das belegen.

Nun ist so ein Jahresrückblick durchaus etwas Schönes: Wenn im Wrapped «Heaven» von Bryan Adams erscheint, weiss ich, dass ich viel selig gegrölt habe. Ich weiss, ob ich im Home Office mehr schlechte oder gute Laune hatte und kann mir sicher sein, nebenbei auch was gelernt zu haben (Podcasts!). Aber! Aber! Aber! Spotify Wrapped verleiht eh schon exklusiv denkenden Musikliebhaber:innen in Kombination mit Social Media noch mehr Macht. Und eine schimmernde Fläche zur Selbstbespiegelung. Musik sollte doch verbinden, sollte etwas persönliches sein dürfen – so wie Spotify Wrapped es im Speziellen ist. Geschmäcker kann man nicht in richtig und falsch einteilen. In cool und peinlich. In anspruchsvoll und flach. Wer das nicht kapiert hat... dessen Leben ist vielleicht doch nicht Musik.

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